Gericht
Ich sitze nieder, ein Gericht zu halten,
Und rufe mahnend: “Auf, erwacht, erwacht!
Erscheint vor mir, ihr Schadel jah zerspalten!
Erscheint, ihr Leiber, so das Rad zerkracht!
Erscheint, die ihr gebrandmarkt in den Falten
Der dustern Stirn, erscheint in blut’ger Tracht!
Erscheint, erscheint, ihr grablichen Gestalten
Der Knochenstatte und der Kerkernacht!
Heran von eurer schwankenden Galeere,
Die sehn’gen Arms ihr noch die Wogen schlagt!
Heran, die ihr der Ketten Zentnerschwere
Auf einer Festung gras’gen Wallen tragt!
Heran, die Tag und Nacht ihr in der Leere
Dumpfiger Zellen nie zu schlafen wagt:
Auf dab nicht lebend euch der Zahn verzehre,
Der hungrig schon am Korridore nagt.
Und ihr, herbei, ihr bleichen Sunderinnen!
Ihr, noch vor Monden wundersam geschmuckt,
Herbei, die ihr verbergt im schmutz’gen Linnen
Die Brust, dran tausend Rosen einst gedruckt!
Herbei, die ihr zu schrecklichem Beginnen
Auf euer Liebstes einst den Stahl gezuckt!
Herbei, die ihr von eines Turmes Zinnen
Wahnsinnig jetzt ins Grau der Wolken blickt!
Erscheint, ihr schon Gerichteten! Ich rechte
Ein zweites Mal. Ich schrecke laut und dreist
Empor euch aus dem Grame langer Nachte;
Aufsteigt vor meinem Geist, erscheint und weist
Die Nacken mir, drauf man mit Ruten rachte
Die Missetat; ihr tief Verworfnen, reibt
Ab das Gewand, abschuttelt Lock und Flechte
Vom Aug, das glanzlos durch die Hohlen kreist!
Ist dies der Mund, dem man Bewundrung zollte,
Als er von suben Liedern uberflob?
Ist dies die Stirn, die den Gedanken rollte,
Kuhn, wie er einst olymp’schem Haupt entsprob?
Ist dies die Brust, die nur nach Taten grollte,
Durch die das Blut in wilden Satzen schob?
Und dies das Auge, das nur strahlen sollte,
Das eine Welt der Liebe einst erschlob?
Habt ihr so Furchterliches denn verbrochen,
Dab ihr der Milde nimmer wurdig seid?
Nur wert noch, dab euch jah die Brust durchstochen,
Dab raffiniert man Qual an Qualen reiht?
Nicht wurdig mehr, dab Herzen fur euch pochen,
Dab eine Stimme bittend fur euch schreit?
Nur wert noch, dab euch barsch der Stab gebrochen,
Dab euch der Henker in die Fratze speit? –
Nur Beile wubte man fur euch zu wetzen,
Wenn wild der Hunger das Gedarm zerrib!
Nur Lumpen warf man hin und ekle Fetzen,
Wenn euch der Winter in die Schultern bib!
Mit Fabeln wubte nur der Pfaff zu letzen,
Wen rauh die Gicht aufs faule Lager schmib!
Man folterte mit Not euch und Gesetzen,
Und nur der Tod, der Tod war euch gewib!
Ihr Unglucksel’gen, die man frech geschandet,
Die im Spitale klagend ihr verreckt,
Die ihr im Rausch der Jugend schon geendet –
Getrost! Kein Teufel euch im Grabe schreckt.
Getrost schlaft weiter! Eh das Jahr sich wendet,
Ein neu Geschlecht die jungen Glieder reckt,
Das euern Kindern ernst sein Wort verpfandet,
Das siegreich nur das Schwert zur Scheide steckt!
Aufkubt ein ander Gluhn an allen Orten
Die Herzen alle, die so lang erstarrt.
Ob Saat und Saaten elend auch verdorrten –
Ein neuer Fruhling unsrer Erde harrt!
Und andre Fahnen schimmern, andre Borten;
Der Zorn, der mut’ge Renner, stampft und scharrt,
Und vor der Zukunft weit erschlobnen Pforten
Larmt kampfgerustet schon die Gegenwart.”