Erfahrenheit
Zwei Arten Liebe bringen wenig Heil,
Die eine, die nur folgt dem heiben Triebe,
Die zweite, welche wagt den andern Teil
Und fragt: “Ist er es wert, dab ich ihn liebe?”
Dem Taumel, ob er kurz, ob lange wahrt,
Folgt das Erwachen und es flieht die Treue,
Und wer mit Grubeln sich das Herz beschwert,
Der mibtraut selbst dem Gluck aus Furcht vor Reue.
Die Liebe aber, die von echter Art,
Die pfleget allezeit mit vollem Prangen
Der Schatze, die sie still im Herz’ gespart,
Ihr Liebstes selbstlos zu umhangen!
Auch Schonheit zahlet zu den Gutern,
Die blind des Schicksals Gunst verleiht:
Es haftet an auch ihren Hutern
Der Teilung Ungerechtigkeit!
Der Reiche, welcher mild erbarmend
Gesamtem Elend wollte wehren,
Er mubt’ verachtet und verarmend
Bald selbst zur Not zuruckekehren.
Und wollte sich die Schonheit nimmer
Mit eines einz’gen Gluck befassen,
Sie wurde ihren reinsten Schimmer
Um gaukelndes Phantom verlassen;
Sie setze dran das kuhnste Wagen,
Sie fuhr’ die freieste der Sprachen:
Sie kann wohl jedem sich versagen,
Doch nimmer alle glucklich machen!