Die leidende Stadt
“Eine der ersten Bedingungen zum Glucke ist ein Leben, in welchem die Beziehungen des Menschen zu der Natur aufrecht erhalten bleiben, d. i. ein Leben unter freiem Himmel, bei Sonnenlicht und frischer Luft, Gemeinschaft mit der Erde, mit Pflanzen und Tieren. – Betrachtet nun das Leben der Menschen, die nach der Lehre der Welt leben: Viele von ihnen erreichen das Greisenalter, ohne mehr als ein – oder zweimal im Leben den Sonnenaufgang und Morgen und ohne je die Wiesen und Walder anders gesehen zu haben, als von der Kalesche oder vom Waggon aus, und nicht nur ohne je etwas gesat oder gepflanzt, oder eine Kuh, ein Pferd, ein Huhn aufgefuttert und aufgezogen, sondern auch ohne einen Begriff davon zu haben, wie die Tiere zur Welt kommen, wie sie aufwachsen und leben. Diese Menschen sehen nur Gewebe, Steine und Holz, das durch menschliche Muhe verarbeitet ist; sie horen nur Laute von Maschinen, Equipagen und Musikinstrumenten; sie riechen nur spirituose Geruche und Tabaksrauch; zu Handen und Fuben sind sie umringt von Gewebe, Stein und Holz…”
Tolstoi.
Wolke – du weibe Taube im Blauen –
Willst du mich locken zu seligem Fluge
Über die jugendfrohlichen Wiesen,
Über der Walder jubelnde Haupter,
Über den spiegelnden See? –
Ach ich kann nicht schwarmen wie eh’.
Über Wiesen, uber Walder
Seh ich finstre Schatten gleiten,
Trauerschatten… mir wird so weh.
Wie ein Wandrer,
Der zur sterbenden Mutter eilt,
Vor Sorge nicht sieht die Garten am Wege,
Und der Baume, der alten Freunde,
Grubendes Flustern uberhort:
So schwebt vom deutenden Hugel
Meine seufzende Seele
Achtlos uber den Reiz der Flur
Zur fern gelagerten Stadt
Und umfangt die trube Stadt
Mit leidender Liebe –
Wie der weinende Wandrer
Die kranke Mutter.
Leidende Liebe!
Kranze mein williges Haupt
Mit dornigen Traumen,
Lab mein durstendes Auge trinken
Meiner Geschwister Leiden! –
Mit Geliebten Leiden ist sub,
Und Vergessen ist Sunde.
Trube Stadt, murrische Schaar
Schwarzlicher Dacher in Dunst gehullt,
Steinerne Nester brutender Uebel,
Feuchte Kerkermauern,
Bange Krankenkammern
Meiner bleichen Geschwister! …
Dort am engen Giebelfenster
Trauert ein blasses Madchengesicht
Gleich welkender Blume geneigt;
Durch die schmalen Finger
Schleicht der Faden schlangenhaft
Und heftet die matte Hand
An das peinliche Gewebe.
Finster wie ein Sklavenvogt
Schaut vom Hofe die Mauer zu.
Drunten im sonneschmachtenden Hofe
Sitzt auf kuhlen Steinen ein Kind
Traumerischen Auges
Und spielt mit Holzchen
Und pflanzt die Holzchen in sparliche Erde
Und baut ein Gartchen
Im sonneschmachtenden Hofe.
Heimlich aber schleicht das Siechthum
Und kubt des Kindes Wange.
Wo ist des Kindes Mutter?
Sie krummt den schmerzenden Rucken
Am dunstigen Waschfab,
Bis die barmherzige Nacht
Die mude Hand ergreift.
Der Vater aber steht
Auf staubiger Strabe im Sonnenbrand
Und schwingt mit braunen Armen
Den eisenbereiften Stampfer
Zum Stob auf achzende Steine,
Um zu ersticken
Der Erde keimende Sehnsucht,
Halm und Blumen. –
Und Mutter Erde lockte so gern
Die Menschenkinder mit Halm und Blumen
Zu Kindesliebe und Kindesgluck…
O dornige Traume,
Schmiegt euch heib und heiber
Um die Erlosung grubelnde Stirn.
Wilder lodre mein Sehnen,
Lauter rufe mein Flehen:
Erlosender Tag, erwache!
Fruher hebt der erlosende Tag
Dann vom Schlaf sein muthiges Haupt;
Himmlisches Licht
Regnet auf die schmachtende Stadt
Die finstern Dacher vergoldend;
Wonnige Luft in Stromen
Bespult die dumpfigen Mauern
Und scheucht aus steinernen Nestern
Dunkle Wolken gespenstischer Vogel.
O selig,
Zu offnen die Thore der Stadt,
Genesende Geschwister
Zu fuhren an den Handen
Zur mutterglucklichen Natur,
Die mit heibem Sonnenmunde
Die bleichen Kinder kubt!
Dann schwarmen wir
Hand in Hand,
Gelockt von fliegenden Wolken,
Den weiben Tauben im Blauen,
Über die jugendfrohlichen Wiesen,
Über der Walder jauchzende Haupter,
Über den wonnespiegelnden See.