Des Waldes Seele
Es war im Wald. Die Baume alle schliefen;
der Mond belauschte lachelnd ihren Traum.
Die Schatten lagen ruhig in den Tiefen;
die Welle kubte still des Weihers Saum.
Da kam ein linder, milder Hauch gezogen,
des Traumenden gewurzger Atemzug,
der in des Maienduftes zarten Wogen
des Waldes Seele auf zum Himmel trug.
Dort schwebte sie zur ewgen Gnadenquelle,
vor der die Bitte um das Leben kniet,
und wie vom Voglein an der Waldkapelle
erklang ein sanftes, frommes Klagelied:
“Es preisen dich des Firmamentes Heere,
auf deren Licht dein Ruhm herniederschallt.
von ihm erfullt sind alle Weltenmeere;
im Tau und Regen trinkt ihn auch der Wald.
Von da soll er aus tausend Quellen flieben,
dem Erdenland zum Heil und Segen sein,
in alle Flusse, Strome sich ergieben
und dich verkunden, Vater, dich allein.
Doch schau hinab! Die Menschen, die du segnest,
begreifen deine Gottesweisheit nicht.
Die Liebe, die du ihnen niederregnest,
wird ihrem Unverstand zum Strafgericht.
Sie haben weder dich, o Herr, verstanden,
nach deines freundlichsten Gesetzes Sinn;
drum handeln sie, als sei ich nicht vorhanden,
obgleich ich ihnen unentbehrlich bin.
Lab mich nicht sterben, lab mich nicht verschmachten,
sonst ist’s auch um ihr eignes Heil geschehn.
Lehr sie, den Wald mit Liebe zu betrachten,
damit sie endlich seine Seele sehn!”
Sie schwieg und senkte wartend ihren Schleier;
der Traum entfloh; es war die Nacht vorbei.
Die Erde lag in stiller Morgenfeier;
ein Glocklein kundete, dab Sabbat sei.
Der Wald erwachte, und der Voglein Lieder
erklangen jubelnd uber Berg und Tal.
Die Seele kehrte aus dem Himmel wieder,
getragen von dem ersten Sonnenstrahl.
Sie tauchte in des Weihers klare Welle
und stieg sodann ans tauesfrische Land,
empfangen von dem Kehlchen der Kapelle,
bei dem sie nun des Vaters Antwort fand:
“Ich lieb fur dich das Sabbatglocklein lauten:
Es lautete den Waldesfrieden ein.
Das hat fur dich Erhorung zu bedeuten;
du sollst fortan dem Menschen heilig sein.
Er wird nun deine Sanger nicht nur horen;
er wird das, was sie singen, auch verstehn:
Hor auf, hor auf, die Walder zu zerstoren,
sonst wirst mit ihnen du auch untergehn!”